A. K. T. Forum Hanus Außerwissenschaftliche Kunst und Theorie
© Otto Hanus
Vom Wollen der Welt und dem Willen des Menschen
Die Erde (das terrestrische System) ist eine Schöpfung des Universums. Sie existiert mit oder ohne den Menschen. Im Unterschied zur Erde ist die Welt eine Schöpfung des Menschen; ohne ihn würde es die Welt nicht geben. Der physische Mensch ist eine Schöpfung der Erde, der mögliche Mensch (Homo Maximus) in allen seinen Zwischenstufen ist eine Schöpfung von Erde und Welt. Für das Verständnis der Erde und des physischen Menschen ist die Na-turwissenschaft zuständig. Für ein Verständnis der Aspekte des möglichen Menschen reicht sie nicht aus, weil das Prinzip einer psychischen und geistigen Gestaltbildung physikalisch nicht begründet werden kann. Es gibt keinen Gestalt bildenden Prozess ohne einen konfi-gurierenden Einfluss auf die physischen Elementarstrukturen, in dem sich ein geistiges Agens (nicht physisch wirkendes Prinzip) zeigt. Dieser Einfluss kommt durch Beziehungen zustande. Ich definiere diese Beziehungen als relationale Aspekte verräumlichter Zustände, die einen sinn- und wirkungsvollen Zusammenhang bilden. Das bedeutet, dass jedem verräumlichten physischen Phänomen das Prinzip einer nicht verräumlichten Beziehung zugrunde gelegt werden kann. Weil Beziehungen nur im Kontext beobachtbarer physischer Konfigurationen beobachtet und erkannt werden können und das Beobachtete vom Beob-achtenden zu unterscheiden ist, andernfalls Beobachtung nicht möglich wäre, kommt im Beobachten des Physischen ein geistiges, nicht physisches Agens zum Ausdruck. Das phy-sisch Konfigurierte und das konfigurierende Geistige sind keine getrennten Entitäten, son-dern einander bedingende Dimensionen. Dies schließt aus, dass man einen hypostasierten (verdinglichten) Geist einem geistlosen Objekt gegenüberstellt.
Arthur Schopenhauer hat die philosophische Tradition, über den Geist des Menschen zu philosophieren, verlassen, in der ein vom Körper getrennter Geist auf die Welt und den Menschen Einfluss nimmt. Der Ausgangspunkt seines philosophischen Denkens war deshalb nicht der Geist im Gegensatz zum Körper, sondern die Tatsache des Lebens selbst. Er hat gefragt: Was lässt einen Organismus leben? Seine Antwort war eindeutig: der Wille, zu leben. Dieser kurze Satz aus vier Wörtern kommt derart selbstverständlich daher, dass man ihn als banal bezeichnen könnte. Aber was meinte Schopenhauer, wenn er vom Wil-len spricht? Er dachte dabei an den Willen des Lebens selbst und meinte nicht, was man im Lebensalltag als Wille versteht. Sein Verständnis des Willens als Grundvoraussetzung alles Seienden reicht tiefer. Denn dieser eine allumfassende Wille, den er zu erkennen meinte, ist außerhalb von Zeit und Raum. Man könnte ihn deshalb als einen Willen ohne Bedingungen und jenseits aller Kausalität verstehen. Dieser Wille, der als ein archaisches Wollen zu verstehen wäre, spaltet sich in die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf und erscheint verortet in Zeit und Raum.
Die konsequente Betrachtung eines universalen Lebenswillens hat Schopenhauer schließ-lich zum Prinzip einer universalen und archaischen Sexualität geführt. Vom klassischen Gegensatz von Geist kontra Körper und Welt zur Sexualität scheint es ein ziemlich wag-halsiger Sprung zu sein. Diese Waghalsigkeit wird aber verständlich, wenn man das Funda-ment des Lebens ausschließlich unter dem Aspekt der Genitalität sich paarender Körper zum Zweck der Lebenserhaltung betrachtet. Im Licht dieser Betrachtung wird der radikale Wille zum Leben und zum Überleben sichtbar. Er ist die fundamentale und kompromiss-lose Basis jeglichen Lebens. Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sich der archai-sche Wille, den Schopenhauer zu sehen meinte, keineswegs nur im und über den Körper auswirkt, sondern sich auch geistig im Gestalten von Objekten zeigt.
Würde sich nämlich der mit Lebenserhaltung verbundene Wille nur auf das biologische Leben und Überleben beziehen, wäre eine Gehirnentwicklung, die sich zunehmend diffe-renziert und komplexifiziert hat, unnötig und überflüssig gewesen. Es muss also einen Grund dafür gegeben haben und geben, dass sich der Wille über das biologisch bedingte Überleben hinaus ein Gehirn geschaffen hat, obwohl der universale Wille Leben zu erhal-ten, in Verbindung mit dem menschlichen Gehirn, dem Erhalt des Lebens mitunter eher abträglich als förderlich zu sein scheint. Würde es dem universalen Willen ausschließlich darum gehen, am Leben zu bleiben, wäre dazu lediglich eine kontinuierliche Vermehrung von Prokaryoten (Bild 1) erforderlich. Diese ersten lebenden Zellen mit ihrer Fähigkeit, sich vermehren zu können, würden dazu ausreichen, das Prinzip des Lebens aufrechtzuerhalten. Wie man jedoch weiß, hat sich das Leben über das Stadium der Prokaryoten hinaus bis zum Menschen weiterentwickelt (Bild 2). Man übersieht allzu leicht, dass die Existenz des Menschen auf der Erde und seiner Welt wesentlich mehr ist, als es die wissenschaftliche Definition für Leben nahelegt. Sollte sich die Menschheit auf dieser Erde suizidieren, wird es keinen Menschen mehr geben.
Im Vergleich mit den Raubsauriern haben sich die Lebewesen differenziert und komplexi-fiziert. Auch die Entwicklung leistungsfähiger Gehirne wäre nicht erforderlich gewesen, wür-de es dem Lebenswillen nur um die Aufrechterhaltung des Lebens selbst gegangen sein. Lebensformen ohne Gehirn überleben nämlich genauso und womöglich sogar besser als Lebewesen mit einem hoch entwickelten Gehirn. Ein anschauliches Beispiel ist die Ka-kerlake. Dieses Bild (Bild 3) zeigt eine lebende neben einer versteinerten Kakerlake, die vor 300 Millionen Jahren gelebt hat. Bemerkenswert an einer Kakerlake ist, dass sie auch ohne ihren Kopf überleben kann.
Am Beispiel dieses Lebewesens kann man sehen, dass der Wille des Lebens, überleben zu wollen, keiner differenzierten Gehirnentwicklung bedarf, die einen Menschen hervorge-bracht hat. Und trotzdem hat der archaische Lebenswille zu einem Gehirn geführt, von dem Schopenhauer meinte, es würde ausschließlich dem Erhalt des Lebens dienen. Artefakte der menschlichen Frühgeschichte zeigen jedoch, dass sich der Lebenswille des Menschen kei-neswegs nur auf das zweckdienliche Überleben seiner physischen Existenz beschränkt hat-te. Wäre es so gewesen, hätte es keine zweckfrei gestaltenden Ausdruckshandlungen gege-ben. Zweifelsfrei gab und gibt es aber den Willen zum Gestalten, in dem sich mehr als der körperliche Wille zu überleben zeigt. Natürlich hatte der in der Frühzeit der Menschheits-geschichte lebende Mensch den Willen, zu leben und zu überleben. Er hatte aber nicht nur den Willen, zu überleben. Das heißt: Der Mensch war und ist nicht nur vom Lebenswillen zur Fortpflanzung beherrscht. Der Mensch hatte und hat auch den Willen, sich und seine Welt zu gestalten.
Warum ist das so? Die Gehirne der Lebewesen generieren aufgrund der sensorischen Daten der Außenwelt ihre Vorstellungen der Welt. Eine Vorstellung ist in diesem Zusammenhang ein Modell, welches dem Lebensraum des Lebewesens aufgrund seiner sensorischen Erfah-rungen und dem Willen zu überleben entspricht. Das Weltmodell eines Regenwurms ist ein anderes als das einer Kröte. Im Rahmen ihres Weltmodells sind die Lebewesen in das archaische Wollen ihrer Welt eingebunden. Doch sie sind deshalb keineswegs willenlos. Das lässt sich jedoch nur dann verstehen, wenn man diesen Willen nicht mit dem Wollen im Kontext menschlicher Absichten und Entscheidungen gleichsetzt.
Im Unterschied zu den Gehirnen aller nicht menschlichen Lebewesen ermöglicht das Ge-hirn des Menschen ein sich individualisierendes Wollen, einen Ichwillen, der sich zum uni-versalen Wollen des archaischen Gehirns und zu den unbewussten sensorischen Weltvor-stellungen in Beziehung setzen kann. Die Einheit des universalen Willens äußert sich in Freiheitsgraden des Wollens. In dem in allen Lebensformen wirkenden archaischen Willen und im Willen des Ich, wobei zu bedenken ist, dass im Menschen sowohl die eingeschränk-ten als auch uneingeschränkten Freiheitsgrade des Wollens subsumiert sind. In der men-schlichen Lebenswelt spaltet sich der universale Wille auf zu einem wollenden Ich und einem wollenden Du. Das führt dazu, dass mein Wollen ein anderes ist als dein Wollen. Da-durch entsteht und entwickelt sich die dynamische Komplexität der menschlichen Lebens-welt mit all ihrer Brutalität, die dadurch zustande kommt, weil die Einheit des uneinge-schränkten universalen Willens im gegensätzlichen Wollen zum Ausdruck gelangt. Ande-rerseits ermöglichen die Freiheitsgrade des Wollens Optionen von Entscheidungen, die sich im erlebten Gegenübersein von Ich und Welt, in zweckfreien Ausdrucksformen und Gestal-tungen verwirklichen (Bild 4).
Das bezeugen prähistorische Gestaltungen. Sie zeigen uns nämlich, dass sich bereits der Mensch in der Eiszeit, über sein körperliches Überleben wollen hinaus, mit seiner Welt ge-staltend beschäftigt hatte, weil etwas in ihm es wollte. Ich gehe deshalb von einer psychisch geistigen, schöpferischen Dimension des Menschen aus. Dem liegen keine physikalischen oder hirnorganisch determinierten Mechanismen zugrunde. Betrachtet man diese Gravu-ren auf Felsen und Stein (Bild 5 und 6), sowie die beiden Artefakte (Bild 7 und 8) aus der Eis-zeit, weisen sie eindeutig auf eine Gestaltungsabsicht und somit auf gewollte Handlungen des Frühmenschen hin. Das wird man aber nur dann akzeptieren und verstehen können, wenn man selbst die Erfahrung gemacht hat, dass es unmöglich ist, Materie zu verändern, wenn der Handlung keine Absicht zugrunde gelegen hat.
Nach viereinhalb Milliarden Jahren Lebensentfaltung und dem relativ späten Aufkommen des körperlich vertikal organisierten Menschen im Unterschied zum horizontal organisier-ten Tier, war es aufgrund eines komplexer entwickelten Gehirns zu der bemerkenswerten Eigenschaft eines individualisierten Wollens, im Unterschied zum archaischen gewollt wer-den gekommen. Das bedeutet, es war die Voraussetzung dafür gegeben, dass sich das indivi-dualisierte Wollen zum archaischen Willen in Beziehung setzen konnte. Beide Aspekte des Wollens, das archaische und das individuelle, gehen vom Gehirn aus, welches die Verwirk-lichung einer physischen, psychischen und geistigen Dimension der Erde ist. Deshalb um-spannt der von Schopenhauer erkannte universale Wille die extremen Pole von Tod und Le-ben, von Vernichtung und Bewahrung, von Zerstörung und Gestaltung, von Universalität und Individualität. Dieser universale Wille, der in allen Aspekten des Körpers wirkt und zum Ausdruck kommt, ermöglicht in höher organisierten Gehirnen ein individualisiertes Wollen. Dessen einziger, unbedingt erforderlicher Einfluss auf den archaischen Willen, von dem man gewollt wird, ohne es selbst zu wollen, ist die Verweigerung, entweder durch Konditionierung oder aufgrund von Einsicht.
Betrachtet man die ungeteilte Ganzheit des Lebens, erkennt man ein physisches, ein psy-chisches und ein geistiges, sowie ein universales und individualisiertes Wollen. Im univer-sellen Wollen sind das physische und das geistige Wollen nicht voneinander getrennt. Als bedingungslose Gegebenheit alles Seienden ist das universale Wollen ohne Ursache und ohne Ende. Das ist paradoxerweise die Voraussetzung für ein individualisiertes Wollen, das sich an Ursachen orientiert. Und gleichgültig, ob das Wollen universal oder individualisiert ist, gleichgültig, ob es sich im körperlichen, im psychischen oder im geistigen zeigt, im Willen selbst gibt es keine dieser Unterschiede. In jeder individualisierten Äußerung des körperlichen, psychischen oder geistigen Wollens ist man als Individuum ein Ausdruck des universalen Willens, der sich in der physischen Dimension, in der Archaik des sexuellen Wollens äußert.
Der Mensch erlebt sich im Ausgeliefertsein an eine archaisch sexuelle Dynamik der Fort-pflanzung, andererseits hat er den Drang, sich über sein physisches Eingebundensein in den alles durchdringenden Lebenswillen hinaus gestaltend zu äußern, wie prähistorische Funde und Befunde zeigen. Obwohl der Mensch gleich dem Tier dem archaischen Willen der Art-Erhaltung folgt, wirkt noch ein anderes Wollen in ihm und durch ihn. Es ist der Wille zu zweckfreien Handlungen, der bereits in prähistorischen Gestaltungshandlungen seinen Ausdruck gefunden hat. Obwohl Geburt, Leben und Tod elementare Erfahrungen des Frühmenschen gewesen sind und der archaische Lebenswille den beständigen Kampf um das Überleben geprägt hatte, gab es dennoch einen über das archaische Wollen des Kör-pers hinausreichenden geistiges Willen, der sich in der Absicht, das Unvermeidbare zu ge-stalten geäußert hatte. Prähistorische Bestattungsrituale weisen darauf hin, dass Sterben nicht einfach als unausweichliche Tatsache des Körpers erlebt wurde, sondern mit intuiti-ven Ahnungen verbunden war. In Israel hat man in Höhlen Hinweise gefunden, die auf Bestattungen hindeuten, die vor über 90.000 Jahren stattgefunden haben.
Was lässt sich daraus folgern? Es lässt sich vermuten, dass der prähistorische Mensch bis in die Gegenwart hinein nicht nur das Bedürfnis hatte zu überleben, sondern auch der Welt gestaltend begegnen wollte. Dieser Gestaltungswille war nicht vereinzelt zum Ausdruck gekommen, was darauf hinweist, dass der geistige Aspekt des Willens zum Gestalten bereits von Beginn an im menschlichen Gehirn angelegt ist. Es weist auch darauf hin, dass dieser Gestaltungswille keineswegs durch zufällige Quantenfluktuationen in einem Urgehirn ent-standen war, weil er sich nämlich auch in Regionen nachweisen lässt, die geografisch weit voneinander entfernt waren. Ferner sind Gestaltbildung, Konzeptbildung und Konfigura-tion keineswegs Attribute eines höher entwickelten Gehirns; sie finden sich im Willen der Lebens- und Gattungserhaltung, in den sexuellen Strategien der archaischen Kopulation. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Das Männchen der Bettwanze besitzt einen gewaltigen Penis, der wie ein schwertartiger Dolch geformt ist und den sie in einer fast perversen Weise zu benutzen versteht. Mit die-sem Penis stößt und bohrt die männliche Wanze irgendwo in den Körper des Weibchens hinein, das kann ihr Kopf, der Bauch, die Beine oder ihr Rücken sein und ejakuliert dabei. Dieser Vorgang wird als traumatische Kopulation bezeichnet. Mithilfe eines Gewebspolsters verschließt das Weibchen seine Stichwunde, und die Samenzellen dringen in den Blutkreis-lauf des Weibchens ein. Obwohl die weibliche Wanze eine Vagina hat, wird diese vom Männchen nicht berücksichtigt. Wenn man eine männliche Wanze zur Größe eines Men-schen hochrechnet, dann würde sie bei jeder Ejakulation ca. dreißig Liter Sperma abgeben. Aber die Bettwanzenmännchen unterscheiden gar nicht zwischen Männchen und Weib-chen. Deshalb kommt es dazu, dass auch ein Männchen vom Penisdolch eines anderen Männchens durchbohrt und von seinem Sperma überschwemmt wird. Dieses Sperma des fremden Männchens vermischt sich nun mit dem Sperma des penetrierten Männchens, und wenn dann dieses Männchen seinerseits ein Weibchen penetriert, dann transportiert es beide Spermien in dessen Körper. Ein Wanzenweibchen wird bei dieser Kopulationspra-xis von vielen rabiaten Männchen am ganzen Körper penetriert, sodass es überall mit Nar-ben bedeckt ist. Im Laufe der Zeit werden diese Narben zu einer Art sekundären Vaginen umgeformt, sodass sie die Funktion einer realen Vagina haben, in die das Männchen ein-dringen kann. Dieses anschauliche Beispiel mag dafür dienen, das höchst intelligente Wol-len in der Welt des Lebens zu verstehen. Ein archaischer Wille, der sich dahingehend äu-ßert, möglichst viele Spermienzellen zu den Eizellen eines Weibchens zu transportieren.
Jede Durchsetzung des Willens macht einem anderen Objekt die Durchsetzung seines Wil-lens streitig. Schopenhauer zufolge zeigt sich darin eine im archaischen Willen angelegte Entzweiung mit sich selbst. Er illustriert diesen Gedanken mit einer Beschreibung der aus-tralischen Bulldog-Ameise. Wenn man sie durchschneidet, beginnt ein Kampf zwischen ihrem Kopf- und dem Hinterteil. Der abgetrennte Kopf der Ameise besitzt ein scharfes Ge-biss und das Hinterteil ist mit einem Stachel besetzt. Der Kopf beißt in das Hinterteil, wel-hes sich tapfer wehrt, indem es immer wieder auf den Kopf einsticht. Ein solcher Kampf kann bis zu einer halben Stunde lang dauern.
Ein anderes Beispiel vermittelt ebenso anschaulich die Aufspaltung der Einheit des archa-ischen Willens in einem Lebewesen, zu einem sich gegenüber seienden Wollen. Dabei han-delt es sich um die männlichen Skorpionflige und ihre sexuelle Strategie der Vergewaltig-ung. Die Männchen machen sich auf die Suche nach einem Weibchen. Wenn ein Männ-chen ein Weibchen entdeckt, stürzt es sich darauf und packt es mit seinen großen Genital-zangen. Sobald das Männchen das Weibchen fest in seinen Griff bekommen hat, versucht es, das sich heftig wehrende Weibchen in eine kopulationsgerechte Lage zu bringen. Das gelangt ihm mithilfe eines speziellen Haftorgans, das es ihm ermöglicht, trotz des sich weh-renden Weibchens sein Genitalorgan mit dem des Weibchens in Kontakt zu bringen und es zu besamen. Der universale Wille der Lebenswelt will mit aller Macht, dass die Männchen an die Eier eines Weibchens herankommen. Das lässt sich natürlich auch mit weniger drastischen Me-thoden erreichen. Etwa mit der sexuellen Strategie, ein sesshafter Zwerg zu werden. Dabei entwickeln sich die Männchen im Verhältnis zum Weibchen zu kleinen Wesen, die entwe-der innerhalb oder außerhalb eines Weibchens als tragbare Samenbank leben. Die Männ-chen haben sich zu einer parasitären Form entwickelt, die es ihnen ermöglicht, sich auf Dauer bei einem Weibchen einzunisten, indem sie sich auf ein reines Fortpflanzungsorgan reduziert haben.
Eine andere sexuelle Strategie des Wollens praktiziert die schwedische Langwanze, die sich die Dauer zunutze macht und bis zu vierundzwanzig Stunden lang mit einem Weibchen kopuliert. Je mehr Männchen als Begattungskonkurrenten für ein Weibchen infrage kom-men, umso länger kopuliert das Männchen und hindert damit seine Konkurrenten daran, in die Vagina des Weibchens eindringen zu können. Das sexuelle Wollen kennt offenbar keinerlei Schranken, wie das letzte Beispiel einer speziellen Bienenpopulation veranschau-licht. Die Bienenkönigin verstößt einen Duft, der die Bienenmännchen anlockt, sodass sich ganze Männchenschwärme darum bemühen, an die Königin heranzukommen, um sich mit ihr zu paaren. Doch auf dem Weg zu dieser Königin müssen die Männchen zahlreiche Hin-dernisse überwinden, sodass die Konkurrenten immer weniger werden. Wenn es einem Männchen gelungen ist, die Königin zu erreichen, zögert es keinen Moment, um sein Le-bensziel zu verwirklichen. Sobald die Königin bereit ist und das Männchen in ihrer Vagina eindringt, explodiert es, wobei sein Geschlechtsorgan wie aus einer detonierenden Patrone hervorschießt und in den Körper der Königin hinein explodiert. Der Penis des Männchens ist zusätzlich mit Hörnern und Widerhaken versehen, mit denen er sich im Körperinneren der Königin verkeilt. Zugleich wird ein Sekret abgesondert, welches die Körperöffnung der Königin verstopft. Am Ende dieses Vorgangs ist das Männchen eine leblose Hülle geworden, die sich vom Körper des Weibchens löst.
Bei jedem Lebewesen ist das archaische Wollen mit dem Verhalten des Körpers identisch. Es gibt kein Wollen, ohne dass es als Aktion im Körper erscheint. Der Wille und die Aktionen des Körpers sind keine voneinander getrennten Zustände, die kausal miteinander verbun-den sein würden. Das Wollen und dessen Ausdruck im handelnden Körper haben keine kausale Beziehung von Ursache und Wirkung. Der Wille ist also nicht die Ursache für den handelnden Körper, weil der Körper selbst ein in Raum und Zeit verwirklichter Wille ist, der über das individualisierte Wollen in gestaltenden Handlungen zum Ausdruck kommt. Ein bedeutsamer Fund aus der Höhle "Hohle Fels" in Schwäbisch Alb ist meiner Meinung nach im Hinblick auf den Willen und die Entscheidungsfreiheit zu handeln bemerkens-wert. Es ist ein vermutlich 28.000 Tausend Jahre alter Penisstein aus der Jungsteinzeit, der vermutlich als Dildo Verwendung gefunden hat. Das ist insofern interessant, als sich hier das archaisch sexuelle Wollen mit dem individualisierten Wollen trifft. Es ist nicht einfach, einen Stein mithilfe eines anderen Steins formbildend zu bearbeiten. Ein Mensch aus der Steinzeit hatte sich offenbar diese Mühe gemacht, weil er es wollte (Bild 9). Außerdem hat man in Schweden auch noch einen anderen, aus Horn gefertigten steinzeitlichen Penis gefunden (Bild 10).
Jetzt könnte man fragen: Warum sollte ein Dildo aus der Steinzeit ein Hinweis darauf sein, dass sich im Menschen die Absicht zu wollen geäußert hat? Ich beantworte die Frage so: Weil sich im schöpferischen Akt des gestaltenden Handelns der Wille des Körpers auf eine Idee bezogen hat. Eine Idee ist aber keine sensorisch wahrnehmbare Realität, bevor sie ma-teriell verwirklicht wurde. Eine Idee ist ein intrazerebraler geistiger Zustand, der sich bisher nicht in den Attributen der Raumzeit verräumlicht hat. Und weil jeder Gestaltung eine ent-weder bewusste oder nicht bewusste Idee zugrunde gelegen hat, ist auch die Gestaltung ei-nes steinzeitlichen Dildos der verräumlichte Ausdruck einer Idee und somit eines indivi-dualisierten Willens gewesen. Für das individualisierte Wollen im Kontext des universalen Willens scheint auch der Fund einer Flöte bemerkenswert zu sein, die man auf ein Alter von 35.000 Jahren datiert hat. Es handelt sich derzeit um das älteste prähistorische Musikinstrument, welches man bisher gefunden hat (Bild 11).
Dieser Flötenfund weist darauf hin, dass bereits der Frühmensch über den archaischen Le-benswillen des Körpers hinaus auch den Impuls eines psychischen und geistigen Wollens kannte. Wenn man unterstellt, dass es zu jeder Zeit den Körper und seinen Lebenstrieb ge-geben hat und gibt, und wenn das psychische und geistige Wollen nicht vom Körper ge-trennt sind, wäre daraus zu schließen, dass der Körper selbst in allen seinen Äußerungen der Ausdruck eines psychischen und geistigen Wollens ist (Bild 12).
Wenn die Welt, wie Schopenhauer meint, eine Manifestation des Willens (prinzipium indi-viduationis) ist, wessen Wollen ist es? Wer will etwas? Für ihn ist das universale Wollen et-was, das weder einen Anfang noch ein Ende hat. Es ist. Und weil der Wille von nichts Kon-kretem ursächlich bedingt ist, ist er außerhalb von Raum und Zeit. Erst dadurch, dass das Wollen in den Gehirnen der Individuen durch Handlungen in Raum und Zeit zum Aus-druck kommt, sind Beobachtungen und Erfahrungen von Ursache und Wirkung möglich. Man könnte deshalb sagen: Die Welt ist, weil sie vom Willen gewollt wird und sich in der Vielfalt der Erscheinungen äußern und gestalten will. Die vom Menschen geschaffene Welt gegenständlicher Objekte und das Erleben seiner gegenstandsfreien Zustandsräume sind demzufolge universal gewollt.
Was ist der Wille?
Für eine Antwort auf diese Frage hilft uns eine quantenphysikalische Analogie. Ein Elektron zum Beispiel lässt sich nur im Kontext physikalischer Bedingungen als Wirkung beschrei-ben, nicht jedoch als eine euklidisch verräumlichte materielle Gestalt. Insofern ein Elektron keine verräumlichte Gestalt ist, ist es auch ohne Ausdehnung im dreidimensionalen Raum, und das bedeutet wiederum, dass ein Elektron überall und nirgends ist. Die Existenz eines Elektrons kann deshalb nur im Kontext von Wechselwirkungen beobachtet werden, wobei das Beobachten der Wirkungen eines Beobachters bedürfen, der diese Wirkungen wahr-nehmen will. Der Vorgang bzw. der Zustand des Beobachtens lässt sich nicht vom individu-alisierten Ichwillen eines Beobachtenden trennen. Ebenso wie ein Elektron nur im Kontext kontrollierter physikalischer Interaktionen als Wechselwirkung existiert, ist auch der universale und individualisierte Wille nur über Handlungen und deren Wirkungen zu erkennen. Elektronen sind grenzenlos, der universale Wille ebenso (Bild 13).
Stellen wir jetzt eine Analogie zum universalen Willen her. Auch das Wollen lässt sich aus-nahmslos nur über Wirkungen wahrnehmen und beschreiben. Der Wille hat keine materi-elle Existenz und deshalb hat er auch keine Ausdehnung in Raum und Zeit. Das bedeutet: Ohne ein existenzielles Vorhandensein ist auch der Wille, analog zum Elektron, überall und nirgends. Wie das Elektron, so kann sich auch das Wollen nur im Kontext von Wech-selwirkungen ereignen. Wahrnehmungen des Wollens sind demnach Beobachtungen von Wechselwirkungen im Kontext von Gegebenheiten. Das heißt: Es kann keine direkte Beob-achtung des Willens geben, sondern nur Wahrnehmungen von Situationen, denen ein Wol-len zugrunde gelegen hat. Wie das Elektron, so kann sich auch das Wollen nur im Kontext von Wechselwirkungen ereignen. Wahrnehmungen des Wollens sind demnach Beobach-tungen von Wechselwirkungen im Kontext von Gegebenheiten. Das heißt: Es kann keine direkte Beobachtung des Willens geben, sondern nur Wahrnehmungen von Situationen, denen ein Wollen zugrunde gelegen hat, weil sie sonst nicht zustande gekommen wären.
Die gesamte Lebenswelt ist einem bedingungslosen Ja zum Leben unterworfen, ebenso wie das Elektron einem bedingungslosen Ja zum Sein unterworfen ist. Das Universum kennt kein Nein. Dieses universale Ja des Seienden ist dem Ja des universalen Willens gleichzu-setzen. Das zeigt sich darin, dass sich kein Lebewesen in Bezug auf seinen archaischen Le-benswillen verneinend verhalten kann. Nur der Mensch kann das und wenn er es will, überschreitet er die Grenze des gesellschaftlichen Normalen. Worauf es ankommt ist, dass man sich aufgrund seines individualisierten Wollens und der damit verbundenen Fähigkeit verneinen zu können, den archaischen Willen verweigern kann bzw. verweigern könnte.
Betrachten wir zuletzt noch einen anderen Aspekt. Wenn man selbst und die Welt Körper und Geist, Wille und Vorstellung sind: Wie unterscheidet man sich dann von der Traum-welt, in der wir ja auch ein Wollen und Vorstellungen erfahren? Für Schopenhauer besteht der einzige Unterschied darin, dass wir nach dem Träumen erwachen, wodurch sich die Begebenheiten der geträumten Welt von den Begebenheiten der im Wachsein erfahrenen Welt unterscheiden lassen. Das bedeutet: Es scheint lediglich einen Unterschied zwischen dem Wollen im Schlaftraum und einem Wollen Wachtraum zu geben. Anders gesagt, im Wachsein träumt man sein Wollen in der Realität und im Schlaf träumt man an sein Wol-len außerhalb der Realität. Ist nicht das ganze Leben ein Traum, sinniert Schopenhauer? Gibt es ein sicheres Kriterium zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Phantasie und Realität? Experimente und Untersuchungen in den Kognitions- und Neurowissenschaften haben gezeigt, dass es im Gehirn keinen deutlich erkennbaren Unterschied gibt zwischen sogenannten realen oder imaginären Situationen. Die Funktionen in den neuronalen Netz-werken zeigen in beiden Fällen gleiche Aktivierungsmuster. Es erfordert keinen großen Schritt mehr, um zu begreifen, dass Handlung, Entscheidung und Wille nicht voneinander zu trennen sind.
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