Otto Hanus


Über den Willen zu wollen und die Welt als Vorstellung



Bevor ich mich auf den Willen zu wollen und die Welt der Vorstellung einlasse und mich dabei ansatzweise auf die Philosophie Schopenhauers beziehe, beginne ich mit einer übergeordneten phänomenologischen Definition der Begriffe. Auf den Men-schen bezogen, ist das, was man mit dem Wort „Wille“ bezeichnet, eine Absicht, etwas zu erreichen. „Etwas Erreichen“ kann sich auf alles Mögliche beziehen. Die Möglichkeiten und Grenzen des Erreichbaren werden vom physischen Körper des Indi-viduums, sowie von den geistigen und psychischen Zustandsräumen seines Gehirns bestimmt. Zustandsräume sind zerebral bedingte Muster des Denkens und Empfindens, des Fühlens, Erlebens und Verhaltens und der konzeptbildenden Vorstellun-gen. Diesbezüglich sind dem personalen Ich bewusste und nicht bewusste (aber dennoch verhaltenswirksame) Absichten zu unterscheiden. Etwas Erreichen ist gleichbedeutend mit etwas Verwirklichen. Die Absicht, etwas zu erreichen, also zu ver-wirklichen, bedarf der Energie. Was man in seinem Leben als den Willen, etwas zu wollen, erlebt, ist die einer der Absicht zugrunde liegende Energie. In diesem Zusammenhang unterscheide ich zwischen einem kleinen, ich will und einem großen, es will. Das kleine Ich will, wäre Schopenhauer zufolge dem individualisierten Wollen gleichzusetzen, das große Es will, würde dem universalen Willen entsprechen. Wenn vom Willen die Rede ist, meint man üblicherweise, ein auf den Menschen be-zogenes subjektives Wollen des Ich. Das subjektive Ich kann aber nur deshalb wollen, weil sein kleiner Wille der Aspekt des ihm übergeordneten großen universalen Willens eines universalen Subjekts ist. Daraus folgt, dass das Universum ein physisch materielles System und zugleich immaterielles Subjekt ist. In der Philosophie Schopenhauers ist der Wille des Körpers kein ma-terielles, sondern ein immaterielles Phänomen. Das betrifft auch die Vorstellung, die Ausdruck eines immateriellen Wollens  des Gehirns ist. Der Baum, den man im Feld stehen sieht, ist zwar als ein Objekt außerhalb des Gehirns vorhanden, man kann ihn aufgrund der Sinnesempfindungen sehen, tasten und riechen, aber diese Empfindungen sind gegenstandsfreie neuronale Erregungen und kein Bild vom Baum. Die Vorstellung ist ein beständiger zerebralereProzess des universalen Wollens, der die physischen Impulse der dedektierenden Sinne, in eine kohärente gegenständliche Gestalt übersetzt. Der Arzt, Metaphysiker und Alchimist Theophrastus Paracelsus würde vermutlich gesagt haben, dass der Wille, die Erscheinungen der Welt imaginiert.


In der Philosophie Schopenhauers sind folgende Begriffe von Bedeutung: Wille und Vorstellung, Objekt und Subjekt, An-schauung, Vernunft, Verstand und Wissen. Im Grunde ist seine gesamte Philosophie eine differenzierte und komplexe Defi-nition dieser Begriffe, mit deren Hilfe er alle Erscheinungsformen des Menschen und der Welt bis in die Bereiche des Para-normalen hinein kritisch untersucht und Sinn bildend beschreibt. Schopenhauer zufolge existiert die Welt, in der wir leben, als Wille und Vorstellung. Das klingt zunächst nicht weiter aufregend. Folgt man aber seiner Aussage weiter, sagt er uns damit: Die Welt ist Wille, und sie ist Vorstellung. Sollte es so sein, wäre das eine aufregende Einsicht mit weitreichenden Konsequen-zen. Eine dieser Konsequenzen wäre etwa die Erkenntnis: Du und ich sind Wille und Vorstellung. Weil aber das Bindewort „und“ eine Verbindung der beiden Phänomene Wille und Vorstellung impliziert, müsste man diesen Zusammenhang statt-dessen als Wille-Vorstellungs-Verwirklichung bezeichnen.


Vor Schopenhauer stand der sogenannte Geist in der philosophischen Tradition des Westens im Mittelpunkt des Denkens. In seiner Philosophie hat er diese Tradition verlassen. Ausgangspunkt seines Denkens war nicht der Geist, sondern das Leben. Er hat sich gefragt: Was lässt einen Organismus leben? Diese Frage nach dem Leben hatte ihn zur Phänomenologie der Sexualität geführt. Spricht man vom Leben, so meinte er, muss man auch von dessen Erhaltung sprechen. Deshalb können Mensch und Leben nicht ohne die Sexualität gedacht werden. Schopenhauer erkannte, dass Mensch und Leben unmittelbar mit der Er-haltung der Gattung zusammenhängen; der Selbsterhaltung des Lebens. Daher setzt seine Philosophie nicht am menschlichen Geist, sondern am Trieb zur Zeugung an. Er sagt: Im Zentrum des Lebens steht der Wille zum Leben. Die Natur, deren innerstes Wesen der Wille zum Leben ist, treibt mit aller Kraft den Menschen, wie das Tier, zur Fortpflanzung. Diesem Willen zum Leben ist es nur an der Erhaltung der Gattung gelegen und das Individuum bedeutet ihm nichts. Deshalb stellt sich im Geschlechts-trieb der Wille zum Leben am deutlichsten dar. Angesichts dessen ist in der Betrachtungsweise Schopenhauers die Sexualität, weit mehr als jede andere Regung des Leibes, einem archaischen Willen und nicht etwa der Erkenntnis unterworfen. In der Sexualität zeigt sich der blinde Wille des Lebens. Demzufolge sind die Genitalien der dem Gehirn als Repräsentant der Er-kenntnis entgegengesetzte Pol. Der Mensch wird im Allgemeinen, meint Schopenhauer, von seinem Geschlecht regiert und nicht von Geist. Sein Triebwille bestimmt das menschliche Wesen und Handeln, und dieser blind treibende Wille ist gewisser-maßen in der Sexualität subsumiert. Deshalb ist die Geschlechtsliebe der stärkste aller Triebe. Sie ist der unbewusst drängen-de Wille zum Leben und Überleben. Diese Betrachtungsweise ist radikal, denn jede Verliebtheit, wie romantisch sie sich auch geben mag, meint Schopenhauer, ist ausschließlich Ausdruck eines universalen Lebenswillens, in dem er einen individuali-sierten Geschlechtstrieb erkennt. Es ist anzunehmen, dass sich Sigmund Freud unter anderem von diesem Ansatz inspirieren ließ, als er seine, später Psychoanalyse genannte, Redekur entwickelt hatte. Vor ihm hatte sich der Sanatoriumsarzt Georg Groddeck in Briefen an Freud dahin gehend geäußert, dass sich der Wille des Es über Umwege in Symptomen des Körpers zu äußern vermag. 


Werfen wir einen Blick auf die Realität. Die gesamte Lebenswelt hält sich durch Fortpflanzung am Leben. Es wundert deshalb nicht, wenn Schopenhauer den in jeder Lebenserscheinung erkennbaren Willen zum Leben ins Zentrum seiner Philosophie gestellt hat. Ausgehend von diesem grundlegenden Verständnis einer elementaren Lebensrealität, sieht er den Menschen primär nicht mehr als Geistwesen, wie viele Philosophen vor ihm, sondern als Naturwesen. Schopenhauer philosophiert des-halb nicht über den Geist des Menschen, sondern über dessen Lebenswillen und definiert ihn über sein körperliches Existieren in der Welt. Seine Philosophie ist deshalb keine Spekulation über den Geist, sondern eine Anschauung der realen Welt. Infol-gedessen wird der sogenannte Geist des Menschen im Denken Schopenhauers als eine Funktion des Körpers verstanden. Das war zu seiner Zeit eine außerordentliche Provokation.


Man könnte meinen, dass Schopenhauers Philosophie den wissenschaftlichen Materialismus unterstützen würde. Das wäre jedoch ein Missverständnis, weil man dann übersehen hätte, dass der im Körper wirkende Wille kein Produkt des Körpers ist. Das heißt, der Wille zu wollen kommt nicht durch die materielle Körperwelt zustande, sondern ist als ein in der Welt der Objekte und Subjekte wirkendes universales Prinzip zu verstehen. Das Wesen der Welt wird nicht über den Geist, sondern aufgrund leibhaftigen Wollens unmittelbar in den Willensregungen des Körpers erfahren. Für Schopenhauer ist das Verständ-nis des Willens der Weg zum Verstehen des Wesens der Welt. Der unvoreingenommene Blick auf das unbewusste Wollen, das uns beständig hierhin und dorthin drängt, lässt uns seiner Philosophie zufolge, das Innerste der Welt erkennen. Wenn Schopenhauer den Menschen betrachtet, sieht er nicht dessen Geist, sondern ein geistloses Wollen, das sich am Willen leben zu wollen, orientiert. Dieser Wille, meint er, ist das Gegenteil eines ruhenden Genügens. Er ist Unruhe, Bewegung, Streben nach etwas, Verlangen und damit auch Leiden. Der Wille ist nicht nur die ewig unbefriedigte Lebenskraft, er ist zudem die Quelle des Leidens. Dieses dem Ich nicht bewusste Wollen des Körpers dominiert den Menschen. Der Wille ist mit dem Verhalten des Körpers identisch; man kann nicht wirklich etwas wollen, ohne wahrzunehmen, dass dieses Wollen als Reaktion im Körper erscheint. Die psychische Erfahrung zu Wollen und die damit assoziierten Aktionen, bzw. Reaktionen des Körpers sind keine, zwei voneinander getrennte Zustände, die etwa durch Kausalität miteinander verbunden sein würden. Das psychisch erfahre-ne Wollen und die Reaktionen des Körperwillens haben keine Beziehung von Ursache und Wirkung zueinander, derart, dass ein vom physischen Körper getrennter psychischer Wille die Ursache für die Wirkung im Körper wäre. Nein, Wille und Körper sind eines und dasselbe, folgert Schopenhauer konsequent. Die Aktionen des Körpers, sagt er, sind nichts anderes als die objektivierenden Akte seines Wollens.


Wenn Schopenhauer vom Willen spricht, meint er aber etwas anderes als das, was man im Lebensalltag als Wille zu verstehen gewohnt ist. Sein Verständnis des Willens als Grundvoraussetzung alles Seienden reicht tiefer. Denn dieser allumfassende Wille, den er erkennt, ist eine gegenstandsfreie Wirklichkeit außerhalb von Zeit und Raum, die sich im Kontext von Zeit und Raum zur gegenständlichen Welt verdinglicht. Diese zur Vielfalt der Erscheinungswelt führende Verdinglichung des Willens nennt er prinzipium individuationis. Damit ist gemeint, dass sich der nicht sichtbare gegenstandslose Wille im Kontext von Raum und Zeit Gestalt bildend verwirklicht. Man könnte deshalb sagen, es gibt das Universum, weil es sein will. Im Rahmen dieser Philosophie ist jedes Objekt, jedes Subjekt, jede Gestalt und jeder Zustand die Verwirklichung eines universalen Wollens. Im unvoreingenommenen Wahrnehmen meint Schopenhauer können wir sehen, dass wir nicht frei, sondern einem universalen Willen unterworfen sind. Dieser in uns und durch uns wirkende Wille wirkt mit oder ohne unsere Erkenntnis. Zwar kann dieses Wollen von unserer Erkenntnis begleitet sein; aber von ihr geleitet ist dieses archaische Wollen nicht.


In diesem Zusammenhang zitiert Schopenhauer in einer seiner Schriften eine Metapher des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza aus dem 17. Jhd., der geschrieben hat, dass der durch einen Wurf hochfliegende Stein, wenn er ein Bewusst-sein seiner selbst hätte, meinen würde, aus eigenem Willen hochzufliegen. Und Schopenhauer kommentiert, dass der Stein damit recht haben würde. Hätte er tatsächlich recht, oder würde er sich lediglich einbilden, recht zu haben? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob man von einem universalen, oder einem individualisierten Willen zu wollen ausgeht. Was wäre der Unterschied? Das universale Wollen kennt kein Nein, das subjektiv individualisierte Wollen dagegen schon. Das einzige entscheidende Kriterium, dass man als Individuum ein individuelles Wollen erfahren kann, zeigt sich darin, dass wir imstande sind, zum universalen Wollen nein sagen zu können, das uns blind zu zwingen scheint. Daraus folgt, dass sich der Mensch in einer dialogischen Situation zwischen dem universalen und individualisierten Wollen befindet, sich jedoch dessen nicht bewusst ist. Jede Verwirklichung des Willens macht einer anderen Verwirklichung die Existenz streitig. Schopenhauer zufolge zeigt sich darin die Offenbarung einer im universalen Willen angelegten Entzweiung mit sich selbst. Er illustriert diesen Gedanken mit einer Beschreibung der australischen Bulldog-Ameise: Wenn man sie durchschneidet, beginnt ein Kampf zwi-schen dem Kopf- und dem Schwanzteil; der Kopf greift den Schwanzteil mit seinem Gebiss an, und dieser wehrt sich tapfer, indem er immer wieder auf den Kopf einsticht. Ein solcher Kampf kann bis zu einer halben Stunde lang dauern. 


Ein anderes Beispiel aus der Biologie der Fortpflanzung, die uns Adrian Forsyth in dem Buch "Die Sexualität in der Natur" schildert, vermittelt ebenso die Aufspaltung des universalen Willens in die "Entzweiung mit sich selbst". Es ist die sexuelle Strategie der Vergewaltigung der männlichen Skorpionflige. Die Männchen machen sich auf die Suche nach einem Weibchen. Sobald das Männchen ein Weibchen entdeckt, stürzt es sich darauf und packt es mit seinen großen Genitalzangen. Hat das Männchen das Weibchen fest in seinen Griff bekommen, zwingt es das sich wehrende Weibchen, in eine kopulationsgerechte Lage. Das gelingt ihm mithilfe eines speziellen Haftorgans, das es ihm ermöglicht, trotz des sich heftig wehrenden Weibchens sein Genitalorgan mit dem des Weibchens in Kontakt zu bringen und es zu besamen. An die Eier eines Weibchens heranzu-kommen, lässt sich natürlich auch mit anderen, weniger drastischen Methoden erreichen, in denen sich der archaische Wille anders zeigt. Etwa die sexuelle Strategie, ein sesshafter Zwerg zu werden. Dazu entwickeln sich die Männchen im Vergleich mit den Weibchen zu winzig kleinen Wesen, die entweder innerhalb oder außerhalb eines Weibchens als tragbare Samenbank leben. Die Männchen haben sich zu einer parasitären Form entwickelt, die es ihnen ermöglicht, sich auf Dauer bei einem Weibchen einzunisten, indem sie sich auf ein reines Fortpflanzungsorgan regrediert haben. 


Wenn die Welt, wie Schopenhauer meint, die Manifestation eines universalen Wollens ist: Wessen Wille ist es? Wer will etwas? Für ihn wird der universale Wille durch nichts bedingt und ist deshalb auf nichts Konkretes zurückzuführen. Ohne Anfang und Ende ist er ohne Ursache und somit außerhalb von Raum und Zeit. Dieser universale Wille verwirklicht sich in Zuständen, Prozessen und Funktionen, in Objekten und Subjekten, in anorganischen und organischen Phänomenen. Er objek-tiviert sich als Raum und Zeit und indem er sich in Raum und Zeit objektiviert, erzeugt er Ursachen und Wirkungen. Man könnte deshalb sagen: Die Welt ist, weil die Vielfalt ihrer Erscheinungen vom universalen Willen gewollt wird. Es zeigt sich folgendes Bild: Der universale Wille objektiviert sich in Regeln und in Konfigurationen und verwirklicht sich in anorganischen und organischen Phänomenen. In der organischen Welt der Lebewesen, die in ihrem Existieren voneinander getrennt sind und eigenständig agieren können, spaltet sich die Einheit des universalen Wollens bei den Lebewesen in ein individualisiertes Wollen auf und ermöglicht selbstbezogene Willensregungen, die beim Menschen den Gegensatz der Erfahrung von Du und ich ermöglichen. Dadurch entsteht und entfaltet sich die Komplexität einer Lebenswelt, mit all ihrer Brutalität, die deshalb entsteht, weil sich die Einheit des universalen Wollens im selbstbezogenen Wollen der Individuen bricht.


Schopenhauer beschreibt in seiner Philosophie den universalen Willen als ein primordiales Agens, das sich in den Körpern der einfachen bis zu den komplexen Lebensformen äußert. Beim Menschen korrespondiert das universale Wollen mit einem, mit Vernunft korrespondierenden individualisierten Willen, woraus sich eine dynamische Interaktion zwischen Willen und Vernunft ergibt. Diese Interaktion lebt aus der Spannung zwischen Willen und Vernunft, zwischen Körper und Geist. Der universale Wille, der archaische Wille zum Leben, wird von Schopenhauer als eine außerordentliche Macht angesehen, mit der die Vernunft schwer zu kämpfen hat. Nur unter günstigsten Bedingungen und beständigen Bemühungen, meinte er, kann der individualisierte Wille auf den universalen Willen Einfluss nehmen und einen vom archaischen Wollen befreiten Zustand erleben. Sigmund Freud hat das universale Wollen in seiner Psychoanalyse als unbewussten animalischen Trieb verstanden. "Wo Es ist, soll Ich werden", hat er nach Schopenhauer gesagt und mit anderen Worten vermutlich dasselbe gemeint.


Wenn Schopenhauer fragt, was uns leben lässt, welche Macht den Körper formt und ihn am Leben hält, dann geht er dieser Frage tiefer nach als die Wissenschaften. Denn er überlegt sich und versucht zu ergründen, worin das Prinzip besteht, das uns leben lässt. Die Wissenschaften, kritisiert er, beobachten das Leben nur von außen. Sein Bemühen zu verstehen dagegen besteht darin, die Erscheinungsformen der Welt nicht von außen, sondern gewissermaßen von innen her zu betrachten. Und das, was er in einer nach innen gerichteten Aufmerksamkeit wahrnimmt und erkennt, ist die unbedingte, primordiale und universale Energie des Wollens. Man könnte meinen, der Wille, den Schopenhauer erkennt, würde dasjenige sein, was man in der Theologie als Gott zu verstehen geneigt ist. Für ihn ist aber der Wille weit entfernt von einem personal gedachten, agierenden Schöpfergott. Im Gegenteil: Der Wille, den er zu erkennen meint, ist blind. Und in diesem Blindsein ist er weder gut noch böse. Doch sobald sich der Wille in Raum und Zeit im Menschen verwirklicht, individualisiert er sich und entwickelt Vernunft. Aber diese Vernunft bleibt, dem Verständnis Schopenhauers zufolge, dem universalen Wollen untergeordnet. Denn das physische Gehirn des Menschen und dessen Wollen, meinte er, hat die individualisierte Vernunft gar nicht nötig. Die Evolutionsbiologie würde ihm vermutlich recht geben. 


In Patagonien hat man im Jahr 2007 das Skelett eines bisher unbekannten Riesen aus der Familie der Titanosaurier mit einer Gesamtlänge von 32 Metern gefunden. Diese Tiere haben zu einer Zeit gelebt, als es noch keine Hominiden gab. Zudem hat es eine viele Zigtausende von Jahren dauernde hominide Existenz gegeben, in der es das, was man mit „Vernunft“ bezeichnet, bislang nicht gab. Tatsachen dieser Art scheinen zu bestätigen, dass es ein blindes Wollen, einen Lebenstrieb ohne Vernunft gibt. Wird dadurch die Philosophie Schopenhauers bestätigt? Keineswegs. Denn das, was ein scheinbar „blindes Wollen“ ist, offenbart sich beim Menschen bei näherer Betrachtung als Einfluss auf sein Verhalten und Handeln, welches der Ausdruck eines auf Vorstellungen beruhenden Verstandes ist. Dieser Verstand ist allerdings dem individualisierten Willen zum Leben und Überleben untergeordnet. Er steuert das Agieren in einer Welt, die ein Komplex von Vorstellungen ist. Wie kommt es zu diesen Vorstellungen? Wir erfahren die Welt durch unsere Sinne und wir erkennen das, was uns die Sinne über das Nerven-system vermitteln, durch die modellierenden Funktionen des Gehirns. Die Sinne empfangen Reize der Außenwelt in Form von Nervenimpulsen, die an verschiedene Bereiche des Gehirns weitergeleitet werden. Dort werden die Impulse vom Gehirn orga-nisiert, konfiguriert und zu wahrnehmbaren Bildern umgewandelt. Diese Umwandlung gegenstandsloser neuronaler Impulse zu einem gegenständlichen Objekt, das uns als ein Bild erscheint, ist ein modellierender Akt des Gehirns. Diesen Zusammen-hang meint Schopenhauer, wenn er sagt, dass die Erkenntnis der Welt durch eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zustande kommt, und dass wir uns eine objektive Welt nicht vorstellen können, weil jede Vorstellung ein Akt dieser Beziehung von Subjekt und Objekt ist. Demzufolge ist jedes Objekt unserer Weltbetrachtung, ein Produkt der Vorstellung, die durch eine Wechselwirkung zwischen Außenwelt, Sinnesfunktion, Gehirn und Wahrnehmung erzeugt wird. 


Weil aber das Gehirn ein verwirklichtes universales Wollen ist, deshalb sind auch die vom Gehirn modellierten Vorstellungen Akte dieses Willens. Schopenhauer meint deshalb, dass dasjenige, was alles erkennt und von keinem erkannt wird, der Wille ist. Er ist der Initiator der Welt, die durchgängige und stets vorausgesetzte Bedingung jeder Erscheinung und damit eines jeden Objekts. Diesen Zusammenhang kann man nur verstehen, wenn man die Phänomenologie des Wollens nicht auf das subjektive Ich des Menschen bezieht und darauf beschränkt. Der Wille ist keinesfalls ein Attribut des Menschen, bei dem er sich als individuelles und subjektives Wollen äußert. Der Wille im Sinne Schopenhauers ist das Attribut des universalen Subjektseins des Universums. Diese Philosophie steht nicht im Widerspruch zur Naturwissenschaft. Die Aussage, dass sich ein subjektives Universum ereignen will, ist weder besser noch schlechter als die Aussage, das Universum würde zufällig durch einen großen Knall entstanden sein.


Die Philosophie Schopenhauers, die Realität würde eine Welt der Erscheinungen sein und nur als Vorstellung existieren, ver-leitet zu einer skeptisch ablehnenden Gedankenreaktion. Man wird sich nämlich sagen, dass die Welt schon existiert hat, bevor es den Menschen gab. Und jeder würde vermutlich selbstverständlich meinen, dass es die Realität auch ohne den Menschen gibt. Deshalb muss man bedenken, dass die Welt der Erscheinungen tatsächlich nur solange und insofern existiert, als es ein wahrnehmendes und erkennendes Subjekt und somit die Voraussetzung einer Vorstellung gibt, die ein Resultat des modellierenden Gehirns ist. Ohne Vorstellung, ohne ein wahrnehmendes Erkennen kongruenter Konfigurationen, löst sich die Welt der Erscheinungsformen auf. Trotzdem würde die Welt weiter existieren, mag man dagegen argumentieren. Ja, selbstver-ständlich existiert sie weiter; aber auf eine Weise, die nicht erfahren werden kann, wenn es kein Subjekt gibt, dem die Welt als Vorstellung und somit als gestaltetes Weltbild erscheint.


Schopenhauer unterscheidet zwischen intuitiven und abstrakten Vorstellungen. Abstrakte Vorstellungen beruhen auf Begrif-fen, die sich von den unmittelbar anschauenden, intuitiven Vorstellungen unterscheiden. Dieser Unterschied zwischen abs-trakter und intuitiver Anschauung, zwischen dem abstrakten und intuitiven Erkennen der Welt der Objekte, hängt mit dem Erkennen des Raumes und der Zeit zusammen. Was ist ein Objekt? fragt Schopenhauer und sucht damit eine Antwort auf die Frage, was ist Materie? Und er erkennt, dass jedes materielle Objekt nur und ausschließlich im Kontext von Einwirkungen in Bezug auf ein anderes Objekt existiert und somit eine Erscheinung in einem Netz von Ursache und Wirkung ist. Das, so folgert er weiter, ist das Wesen der Materie: Sie ist Wirkung. Materie ist Wirkung. Und wir bezeichnen die Vorstellungen, die wir uns aufgrund der Wirkungen machen, als Materie. Die materielle Realität ist also Wirkung. Wir erfahren diese Wirkungen in Raum und Zeit. Beide, Raum und Zeit, beruhen auf abstrakten Anschauungen. Denn das, was man zeitlich als vorher und nachher und räumlich als ein Hier und ein Dort erkennt, sind Abstraktionen des Subjekts; es sind Vorstellungen, mit denen das, die neuro-nalen Impulse modellierende Gehirn, die Phänomene der Welt beobachtet und ordnet. Erst die Vorstellung von Objekten in Raum und Zeit lässt uns Materie erfahren. Das bedeutet, dass die Erfahrung von auf Vorstellung beruhender Materie sen-sorische Wahrnehmungen voraussetzt, die mit der abstrakten Vorstellung von Raum und Zeit verknüpft sind. Dieser Zu-sammenhang sagt uns im Umkehrschluss, dass die Materie eines sensorisch erlebenden Subjekts bedarf, das dieses Erleben im Kontext der Vorstellung von Raum und Zeit strukturiert.


Für den philosophischen Realismus ist das Objekt die Ursache für das Subjekt. Für den philosophischen Idealismus ist das Subjekt die Ursache für das Objekt. Schopenhauer sieht es so, dass Objekt und Subjekt koexistente Seiten des universalen Willens sind. Im Licht dieser Betrachtung lässt sich ein Objekt nicht ohne Subjekt vorstellen, was bedeutet, dass die Objekte, die materiell zu sein erscheinen, des Subjekts bedürfen und das Subjekt der Objekte bedarf, um sich erfahren zu können. Das eine kann nicht ohne das andere sein. Es gibt keine Erscheinung eines Objekts ohne Subjekt und es gibt kein Subjekt, ohne die Welt der Objekte. Schopenhauer sagt sinngemäß, die Welt der Objekte ist Vorstellung und deshalb bis in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt. Die diese, auf Vorstellungen beruhende Welt: wie unterscheidet sie sich von der Welt der Träume, die ja auch Vorstellungen sind? Anders gefragt: Wenn die gegenständliche Welt der Objekte Vorstellung ist, und die Welt der Träu-me auch, wie lassen sich dann Traum und Wirklichkeit, wie lassen sich Fantasie und Realität voneinander unterscheiden? Für Schopenhauer besteht der einzige Unterschied darin, dass wir nach dem Träumen erwachen, wodurch sich die geträumte Welt von den Begebenheiten, einer im Wachsein erfahrenen Welt unterscheidet. Das aber sagt nichts anderes, als dass es lediglich einen Unterschied zwischen einem Schlaftraum und einem Wachtraum zu geben scheint. Mit anderen Worten: im Schlaf träumt man die Vorstellung einer Realität und im Wachzustand träumt man die Realität einer Vorstellung. Im tibetischen Yoga des Träumens, den Tenzin Wangwal Rinpoche beschreibt, heißt es: Betrachte die Realität, als würdest du sie träumen, betrachte deinen Traum, als wäre er Realität. Aus dieser Philosophie folgt, dass auch der Körper, der man ist, nur als Vorstellung existiert. Insofern der Körper ein Objekt und die Welt der Objekte eine mentale Konstruktion, also Vorstellung ist, existiert auch der Körper als Vorstellung. Hier zeigt sich eine Parallele zum buddhistischen oder hinduistischen Denken; zum Beispiel, wenn ge-sagt wird, dass die Welt der gegenständlichen Objekte und infolgedessen wir selbst keine inhärente Existenz besitzen. Es gibt die Objekte der Welt nur als Interaktion von Bedingungen, die den beobachtenden Menschen stets und unausweichlich ein-beziehen. Das gilt für jedes Objekt und deshalb auch für unseren Körper, mit dem wir uns unbewusst identifizieren. Nur durch ein Gehirn, dessen Wollen aus neuronalen Daten Vorstellungen generiert, erfährt man seinen Körper als eine, in Raum und Zeit ausgedehnte und konfigurierte Gestalt.


Den Überlegungen Schopenhauers zufolge kann man den universalen Willen nur im Kontext von Raum und Zeit als individu-alisiertes Wollen erfahren. Der Körper ist die Voraussetzung dafür, um den Willen zu erfahren und erkennen zu können. Wenn man die Realität des Körpers, seine Zustände, sein Verhalten, Aktionen und Reaktionen analysiert, begegnet man dem vom Ich unabhängigen Willen. Weil Schopenhauer das so sieht, will er auch jedes Wirken in der Natur als Ausdruck und Verwirklichung eines Willens verstanden wissen. Dieses Wollen ist für ihn etwas, das seinen Ursprung nicht in den Erscheinungen, nicht in den in Raum und Zeit verwirklichten Objekten und auch nicht in der Vorstellung hat, sondern ausschließlich eine sich selbst offen-barende Wirklichkeit ist. Der universale Wille ist das Wesen der Welt. Die sichtbare Welt, die Welt der Erscheinungen, ist Ausdruck des Willens. Weil Wille ist, ist die Welt. Weil Wille ist, ist Leben. Der Wille selbst ist ein unaufhaltsamer Drang. Er will Welt – er will das Leben. Geburt und Tod gehören beide zur Erscheinung des Willens – also zum Leben. Alles, die gesamte Natur, ist demnach objektivierter Wille. Die Erscheinungsformen, die Art und Weise, wie sich der universale Wille objektiviert, wechseln; doch der außerhalb von Raum und Zeit seiende Wille selbst hört nie auf zu sein. Er schafft sich aus der Materie die Welt der Formen, die entstehen und vergehen; doch der im Wechsel und Wandel der Formen sich verwirklichende universale Wille, bleibt von all dem Wandel unberührt. Jede individuelle Lebenserscheinung ist ein Ausdruck des Willens. Er ist der große Gestalter.


Schopenhauer unterscheidet die äußere Form vom inneren Wesen einer Gestalt. Über das innere Wesen einer Gestalt, meinte er, kann uns die Wissenschaft keinen Aufschluss geben, weil das außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt. Das innere Wesen einer Gestalt muss der Wissenschaft verborgen bleiben. Aber ebendiese Einsicht in das Wesen der Dinge, ist Schopenhauers Anliegen. Von außen her betrachtet, lässt es sich nicht erkennen. Zum Beispiel führt uns die äußere Betrachtung des Körpers nicht zum Wesen seiner Existenz. Erst die nach Innen gerichtete konzentrierte Aufmerksamkeit lässt uns das Wesentliche erfahren; man erfährt, dass den Regungen des Körpers ein Wollen zugrunde liegt. Denn Wille und Körper sind eins. Jeder unmittelbare Akt des geistigen und psychischen Wollens ist zugleich ein unmittelbarer Akt des Körpers. Ebenso ist auch jede Einwirkung auf den Körper eine unmittelbare Einwirkung auf dessen Willen. Diese Einwirkung nennen wir Schmerz, wenn sie seinem Willen zuwider ist und wir erfahren sie als Wohlbehagen oder Wohllust, wenn die Einwirkung seinem Willen ent-spricht. Deshalb ist das Wesen des individualisierten Willens ein Wollen im Sinne des Begehrens, das sich im Körper äußert. 


Obwohl sich der universale Wille im individualisierten Wollen der Lebewesen äußert, sind alle diese Lebewesen, die in Raum und Zeit getrennt erscheinen, im Willen geeint. Jedes Subjekt ist mit jedem Lebewesen aufgrund seines Wollens im Wesen identisch. Die Unterschiede sind nicht im Wollen, sondern in den Absichten und Zielen. Der überindividuelle Wille ist die Macht, die alles Lebende verbindet. Einerseits verbindet der Wille des Lebens jeden mit jedem. Andererseits ist diese Ver-bundenheit im Willen der Anlass dafür, dass jeder gegen jeden und jeder sich selbst der Nächste ist. Hat man dies erkannt, ergibt sich daraus eine Ethik, die sich auf die gesamte Welt erstreckt, weil man über den überindividuellen Willen mit allem verbunden ist und demzufolge für alles Sorge zu tragen hat. Wer sich in der Liebe des alle Dinge einenden Willens übt, hat sich von der Täuschung der prinzipii individuationis befreit, weil er die Spaltung zwischen sich und der Welt überwunden hat. Er kann in jedem Wesen den universalen Willen erkennen und in den Erscheinungen der Welt hat er den Willen zu Wollen er-kannt. Im Willen ist das wesensgemäße Gemeinsame aller lebenden Wesen, ja der Welt zu finden. Was man an einem anderen Wesen verübt, verübt man demnach an sich selbst. Wer dies erkennt und danach lebt, meint Schopenhauer, ist aller Tugend und Seligkeit gewiss. Das Übel und das Böse, das Leiden und der Hass, der Gequälte und der Quäler – so verschieden sie sich auch zeigen – sind im Willen zu Wollen geeint. Das zu erkennen, ist nicht jedem gegeben. 


Der Philosophie Schopenhauers zufolge ist das dem universalen Willen untergeordnete individualisierte Wollen zum großen Teil den Menschen nicht bewusst. Darum ist der schlimmste Feind des Menschen der Mensch selbst. Das ist deshalb so, meint er, weil sich die Macht des Wollens beim einen gegen die Macht des Wollens beim anderen mit allen ihm zur Verfügung ste-henden Mitteln, seien es geistige, psychische oder physische, durchzusetzen versucht. Und weil auch soziale Gemeinschaften diesem blinden Wollen in der Selbstdurchsetzung des Lebens unterliegen, entstehen (sowohl unter den Individuen, als in den Gemeinschaften) eskalierende Situationen, die von der universalen Macht des Willens zum Überleben dominiert werden. Schopenhauer hatte sich deshalb gefragt, wie man diesen blinden Zwang des unbewussten Willens durchbrechen könnte. Denn der Tod ist keine Befreiung vom Willen, meinte er. Denn auch nach dem Tod ist man ein unsterblicher, begehrender Wille. Man könne nur mittels der Erkenntnis der Drangsal des Willens entsagen. Nur über die Askese kann man sich dem Kreislauf des Wollens und damit des Leidens entziehen. Wer das prinzipium individuationis durchschaut, wer das Wesen der Dinge erkennt, kann aus dem Bannkreis des Willens heraustreten. Der Wille wandelt sich, indem man ihn verneint. Das ist Askese. Im ver-neinenden Erkennen entsteht eine Abwendung vom universalen Willen zum Leben und von der Bindung an die Objekte der Welt. Der Erkennende befreit sich deshalb von den Fesseln des Willens der Welt. Dies ist für Schopenhauer der Sieg des Geis-tes über das blinde Wollen. Das Herauswachsen des verneinenden Wollens aus dem Willen des Körpers ist der Kerngedanke Schopenhauers. In der vorstellenden und abstrahierenden Vernunft des Menschen kommt der Wille zur Erkenntnis seiner selbst. Im verneinend individualisierten Wollen liegt die Möglichkeit zur Aufhebung des Gefangen-Seins im blinden Wollen verborgen; es ermöglicht die Befreiung, indem es den Willen der Welt überwindet. Die Selbsterlösung, das individualisierte Wollen, der Verneinung des universalen Willens, einer Bindung an die Objekte der Welt, ist für Schopenhauer, ein freiwilliger und durch keine Logik begründbarer Verzicht auf sich selbst und die Welt.


Das Instrument für diese Befreiung durch Verzicht ist der abstrahierende Verstand, mit dem man die vom Gehirn zu gegen-ständlichen Objekten modellierten neuronalen Impulse benennen und zueinander begrifflich in Beziehung setzen kann. Ver-stehen ist demnach eine Interaktion äußerer Einflüsse auf das Gehirn, ein modellierendes Verarbeiten dieser Einflüsse zu kon-figurierten Bildern im Gehirn und ein abstrahierendes Benennen dieser Bilder, weil es das universale Wollen will. Es gibt keine Welt außerhalb eines Gehirns, weil das Gehirn selbst ein Objekt der Welt ist und ebenso gibt es kein individualisiertes Wollen außerhalb des universalen Willens. Weder existiert ein Innerhalb ohne ein Außerhalb, noch umgekehrt. Schopenhauer zufolge ist die ganze Welt Objekt in Bezug auf ein Subjekt und das bedeutet, dass die Welt ein subjektives Objekt, bzw. ein sich objek-tivierendes Subjekt ist.




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