Otto Hanus


Kunst, Gehirn und Wissenschaft



Ohne Gehirn gibt es keine Kunst. Mit Gehirn aber auch nicht, wie man an Beispielen von höher entwickelten Tieren sehen kann. Erst das Gehirn des Menschen ist daraufhin angelegt, Kunst schaffen zu können. Weil aber den Begriff „Kunst“ nichts-sagend und inflationär angewendet wird werde ich stattdessen vom geistigen Ausdruck und von dementsprechenden Hand-lungen sprechen. Dieser Zusammenhang von Ausdruck und Handlung bezieht sich dann nicht nur auf den Menschen, sondern auf das Leben selbst. Die neuronalen Mechanismen eines ausschließlich physischen Gehirns würden nicht ausreichen, um geistig handeln zu können. Wenn nämlich dem Gehirn das gestaltende Wollen fehlt, wird nichts geschaffen werden, das über Jagen, Sex und Fressen hinausgeht.


Die technischen Möglichkeiten bildgebender Verfahren ermöglichen eine zunehmend komplexere und detailliertere Untersu-chung des Gehirns und seiner Funktionen. Die Schlussfolgerungen aus diesen Untersuchungen sind jedoch phänomenologisch nicht neutral, wenn man die Beobachtungen dem Prinzip Ockham´s Rasiermesser folgend ausschließlich chemisch und physikalisch erklärt. Selbstverständlich ist das Gehirn auch chemisch und physikalisch, aber wie ich zeigen werde, nicht nur das. Die wissenschaftlichen Beobachtungen zerebraler Phänomene sind kein Beweis dafür, dass es keinen freien Willen und nichts Geistiges geben würde; sie beweisen lediglich den beinahe zwanghaften Glauben an eine Reduktion auf das Physische. Folgt man diesem im Grunde irrationalen Denkmodell, würde man sich einem zerebralen Determinismus ausgesetzt sehen, der das subjektive Ich auf einen unbedeutenden Zuschauer regrediert. Einem solchen Verständnis zufolge wären wir nichts weiter als komplizierte biologisch gebaute Maschinen, in denen zufällig entstandene Algorithmen abgearbeitet werden. Ich schließe diesen Aspekt nicht aus. Er erklärt aber nicht die Möglichkeiten des geistigen Ausdrucks und die möglichen Ent-scheidungsfreiheiten zerebraler Prozesse, die keinesfalls nur an utilitaristischen Zielen des Überlebens ausgerichtet sind.


Das lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass es den im Jungpaläolithikum lebenden Menschen offenbar ein Bedürfnis ge-wesen war, zweckfreie Spuren des Ausdrucks zu hinterlassen. Vermutlich hatten sie sich vor 45.000 Jahren von Höhlenbären inspirieren lassen, die mit den Krallen ihrer Tatzen Kratzspuren an den lehmigen Höhlenwänden hinterlassen hatten (Bild 1).













  

Die Faszination der Erfahrung, mit scharfen Steinen lineare Spuren erzeugen zu können und sich im Gegenübersein zum Ge-schaffenen als Strukturen bildender Handelnder zu erfahren (Bild 2) war Ausdruck einer Interaktion von Gehirn und Welt. Der wesentliche Unterschied zwischen den Kratzbewegungen von Bärentatzen auf einer Höhlenwand und den eingeritzten Bewegungsspuren der Menschen im Aurignacien sehe ich im Selbsterleben zweckfreier Handlungen, die sich auf keinen pragmatischen Überlebensnutzen zurückführen lassen, wie es der Theorie einer utilitaristischen Evolution entsprechen würde. Stattdessen zeigt sich hier ein Bedürfnis zum Ausdruck, der sich sehr viel später noch deutlicher in Petroglyphen erkennen lässt, die zweifelsfrei einen Willen zu gestaltenden Ausdruckshandlungen erkennen lassen. Das kann man daran erkennen, dass die Gravur gegenstandsfreier Linien unter dem Einfluss einer beabsichtigten Formbildung, die rechts im Bild angedeutete Gestalt eines Büffelschädels ermöglicht hatte (Bild 3).




  











 

Das Gehirn eines Höhlenbären war nie an Ausdruck und Gestaltung interessiert, das Gehirn des Menschen offenbar schon. Die Bewegungsspuren der Bärenkrallen hatten auf das Gehirn der Tiere keine suggestiv motivierende Wirkung. Die Bewegungsspuren der Menschen im Aurignacien scheinen jedoch für deren Gehirn von einer dementsprechenden Wirkung gewesen zu sein, weil sie von Generation zu Generation weiterentwickelt worden waren. Das sollte im Hinblick auf die banalen neurowissenschaftlichen und gewisse evolutionstheoretische Handlungsinterpretationen von Bedeutung sein, weil es für die auf Höhlenwände geritzten Zeichnungen keine Vorbilder gegeben hatte, an denen sich die daran beteiligten Gehirne hätten orientieren können.


Noch deutlicher zeigt sich der Wille eines zweckfrei, geistig handelnden Gehirns an einem anderen Beispiel. Vor einigen Jahr-zehnten hatte man in einer der Lonetalhöhlen, die von Neandertalmenschen besiedelt gewesen waren, die weit verstreuten Bruchstücke von Mammutelfenbein gefunden. Dutzende kleine und kleinster Elfenbeinfragmente lagen durcheinander auf dem Höhlenboden, die man gesammelt und archiviert hatte. Sorgfältig zusammengesetzt wurde die Skulptur eines Löwen-menschen sichtbar, der aus dem Stoßzahn einer Mammutkuh geschnitzt worden war (Bild 4). Man hat das Alter dieses Artefakts auf 40.000 bis 35.000 Jahre geschätzt. Dieser Löwenmensch ist vermutlich die erste schamanische Skulptur, in der eine theriantrope Tier-Mensch Symbiose zum Ausdruck gebracht worden war.
















  



 


Hier zeigt sich, dass die Entwicklung des Gehirns keineswegs nur physisch und biologisch bedingten Mechanismen folgt. Vor allem zeigt sich, wie eine intrazerebrale geistige Dimension zum Ausdruck kam, die frei von materiellen Zweckursachen war. Noch deutlicher lässt sich der geistige Aspekt einer intrazerebralen Dynamik und das damit verbundene Wollen am palä-ontologischen Fund einer pentatonischen Flöte belegen (Bild 5).









  



 

Dieses vermutlich älteste Musikinstrument der Menschheit war aus dem Röhrenknochen eines Geierflügels angefertigt worden und kann nicht durch Zufall entstanden sein; es ist das Indiz einer Absicht, ein Beleg für ein geistiges Handeln. Wenn man sich vorstellt, wie mühsam es vermutlich gewesen war, mit einem geeigneten spitzen Stein geduldig und vorsichtig kleine Löcher in einen Röhrenknochen zu schaben, ohne ihn zu zersplittern, und zwar so, dass die Abstände der Löcher eine penta-tonische Tonfolge ergeben, dann benötigt man schon eine gewisse arrogante Ignoranz, um behaupten zu können, dieses Instrument würde zufällig entstanden sein und keinesfalls auf eine Freiheit des Handelns hinweisen.


Die Hirnforschung richtet ihre Fragen, Untersuchungen und Experimente von vornherein darauf aus, die Leistungen und Ausdrucksaspekte des Gehirns auf neurochemische Interaktionen zurückzuführen und mit physikalischen Mechanismen zu erklären. Dabei wird übersehen, dass eine Voraussetzung nicht dasselbe ist wie eine Ursache. Zweifelsfrei ist die materielle Substanz des Gehirns und die ihr zugrunde liegende Elementarteilchenphysik die Voraussetzung dafür, dass man über die Welt nachdenken, einen Text schreiben oder ein Bild malen kann. Unbezweifelbar ist aber auch die Tatsache, dass die Absicht, etwas zu verstehen, etwas schreiben oder malen zu wollen, die Ursache dafür ist, sich freiwillig für oder gegen etwas entscheiden zu können.


Die Verwirklichung geistiger Absichten und Handlungen setzt die Realität eines physischen Gehirns voraus. Aber die geistigen Absichten, ein damit verbundenes Wollen und sich Entscheiden sind die Ursache für geistige Handlungen in der physischen Welt. Seit Max Planck weiß man, dass sich physische Ereignisse quantifiziert ereignen und der Quantensprung eines Elektrons ein gegenstandsloser Zu-stand außerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums ist. Quantenphänomene lassen sich als die geistige Di-mension des Physischen verstehen. Das Geistige ist die Beziehung zwischen beobachtbaren Phänomenen, in denen sich relationale Muster von Beziehungen zeigen, die sich in Form von Bindung und Lösung, Nähe und Distanz, Verweilen und Vergehen, Erscheinen und Verschwinden ereignen.


Es ist bedauerlich, dass die Stammhirn-Suggestionen aus der Gattung der Großhirn-Spezies dafür ausreichen, um eine differenzierende Entwicklung des kollektiven Gehirns zu behindern und einzuschränken. In China ist man wirkungsvoll dabei, ein Kollektivgehirn zu entwickeln. Das Kollektivgehirn kann man sich als eine geschlossene zerebrale Anstalt vorstellen, in der jede Abweichung von vorgegebenen Suggestionen als Störung diagnostiziert und dementsprechend behandelt, das heißt neu-tralisiert wird. Will man diese Anstalt verlassen, sorgen die von konditionierten Gehirnen normierten Regeln für eine Diffamierung dieser Absicht. An diesem Zustand hat die Glaubensgemeinschaft der akademischen Wissenschaften einen nicht unerheblichen Anteil, indem sie sich nachhaltig darum be-mühen, ein sinnloses Universum zu suggerieren und alle Beobachtungen daraufhin interpretiert werden.


Kollektive Einflussnahmen auf das Denken und Urteilen, das Wollen und Handeln sorgen für die Angleichung an ein zerebrales Kollektiv, indem ein gegenständliches Weltbild modelliert wird, das dem Nutzen eines terrestrischen Kollektivgehirns entspricht. Als physisches Gehirn sind wir alle mehr oder weniger gleich, weil die zerebralen Strukturen übereinstimmen und an utilitaristischen Lebensstrategien ausgerichtet sind. Erst in der Abweichung von der Norm und es gelingt, die selbstge-schaffene, geschlossene zerebrale Anstalt zu verlassen, verwirklichen sich die geistigen Aspekte des Gehirns. Das hatte der russischen Avantgarde-Künstler Kasimir Malewitsch mit seinem Suprematistischen Manifest im Sinn, weil er um 1920 die Notwendigkeit eines geistigen Einflusses auf die Gesellschaft erkannt hatte. Die gegenstandsfreie Malerei war für ihn ein Ausdruck des Bewusstseins und des Unbewussten außerhalb jeder Zweckmäßigkeit, deren rationale Unbegreifbarkeit einen Zu-gang zur geistigen Dimension ermöglichen sollte.

Bild 1

Bild 2

Bild 3

Bild 4

Bild 5

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