Otto Hanus


Die Welt jenseits des Sichtbaren




Könnte die Kunst über die Welt physischer Erscheinungen hinausführen? Könnte sie etwas vermitteln, was über ein wis-senschaftliches Weltbild hinausführt? Und wo könnte ein solcher Weg hinführen? Wenn alles Kunst ist, was Menschen als Kunst bezeichnen, scheint es keinen Weg zu geben, den zu gehen sich lohnen würde. Das betrifft jedenfalls die kom-merzialisierte Kunst und den damit verbundenen Markt. Wendet man sich davon ab, eröffnet sich eine Betrachtungsweise, die Paul Klee zum Ausdruck gebracht hatte: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wider, sondern sie macht sichtbar.“ Verzichtet man auf den nebulösen Aspekt der Kunst, dann können Phänomene von Suggestion und Wirkung, von gestalteten und kaum gestalteten zerebralen Äußerungsformen sichtbar und erfahrbar werden.


Es gibt eine Welt jenseits des physisch Sichtbaren. Es gibt eine physische, eine psychische und eine geistige Welt. Es gibt eine Welt des konditionierten Unsinns, in der man meint, die Wahrheit des Universums würde zu erkennen sein, wenn man es nahezu zwanghaft auf eine einzige Dimension, nämlich das Physische, reduziert. Doch es gibt eine offenbarte Welt geistiger Phänomene, die wahr ist, obwohl man sie nicht beweisen kann. Mich interessieren die Wege zum Unbeweisbaren. Das bedeutet, dass sich das Geistige nur über seine Wirkungen erkennen lässt; beweisen kann man es nicht. Das ist paradox, weil Wirkungen mit nicht wiederholbaren Rahmenbedingungen des Empfindens verbunden sind und das bedeutet, dass sich Wirkungen nur über gedankliche Abstraktionen begründen, aber nicht existenziell beweisen lassen. Beweisen selbst ist ein geistiger Vorgang, der sich nicht beweisen lässt.


Das Schöpferische umfasst mehr als das, was man heute Kunst nennt. Durch die überwiegend digitale Wissensvermittlung unserer Zeit erscheint es immer weniger selbstverständlich, dass jeder Erkenntnis bzw. jeder Einsicht ein schöpferischer zerebraler Prozess zugrunde liegt. Die Tendenzen einer einseitig rationalisierten und akademisierten Bildung behindern den Zugang zu einem Weg, der in die Richtung einer Erfahrung des Schöpferischen führen könnte. Dem könnte man entgegnen, es habe zu keiner Zeit mehr Freiheiten für Handlungen und Äußerungen gegeben, die, als Kunst deklariert, der schöpferischen Freiheit zugesprochen werden. Freiheit wird in diesem Kontext der Kunst jedoch als Negation einer schöpferischen Ordnung aufgefasst, die jede denkbare und nicht denkbare Form von Inszenierung ermöglicht. Wenn aber die Kunst nur noch einer kommerzialisierten Selbstinszenierung dient, fallen schöpferisches Handeln und Erkenntnis auseinander und dann ermöglicht die Freiheit der Kunst auch keine Einsicht in das Wesen der schöpferischen Ordnung von Menschen und Welt.


Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der sogenannten objektiven physischen Außenwelt suggerieren, es würde keine ebenso objektive geistige Welt geben. Dieser von der Physik weitergereichte Ansatz wird mehr oder weniger bedenkenlos von der Biologie, Neurologie und Psychiatrie übernommen. Das hat ein an die Materie gebundenes Verständnis des Gehirns zur Folge, was dazu führt, dass sich das geistig Sinn gebende und über die Sinne geistig vermittelnde seine Konturen in der Dunkelheit des Un-bewussten verliert. An die Stelle gelebter Einsicht treten rationale Algorithmen, die zweifelsfrei besser funktionieren als der Mensch, aber den Nachteil haben, nicht erkennen zu können, wie sie handeln, weil sie nicht sehen, nicht hören, empfinden, fantasieren, suggerieren und nicht träumen können. Wenn man das außerhalb vom Gehirn befindliche Physische wieder mit der geistigen Innenwelt zusammenbringt, lassen sich die für ein schöpferisches Handeln notwendigen Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt, Physischem und Geistigem, den Sinnen und dem Sinn erfahren.


Die Kunst ermöglichenden Voraussetzungen sind dieselben wie für die Wissenschaft. Beide erfordern die schöpferische Aktivität eines wahrnehmenden und abstrahierenden Gehirns. Und jede Erkenntnis, die man durch Kunst und Wissenschaft gewinnt, ist Ausdruck einer geistigen Beziehung zur Welt, deren Phänomene es ohne ein wahrnehmendes Gehirn nicht gibt. Trotz dieser zerebralen Gemeinsamkeit gibt es jedoch einige fundamentale Unterschiede und Gegensätze, die zeigen, mit welchen Möglichkeiten der Weltbetrachtung das Gehirn agiert. Wissenschaft ist beobachtend, Kunst ist wahr-nehmend. Wissenschaft analysiert, Kunst synthetisiert. In der Wissenschaft wird berechnet, die Kunst ist erlebend. Auf der einen Seite wird generalisiert, auf der anderen individualisiert. In der Wissenschaft subtrahiert man das Subjektive vom Weltverständnis, in der Kunst bezieht man das Subjektive in das Weltverständnis ein. Als Wissenschaftler will man objektiv sein, als Künstler ist man subjektiv. In der Wissenschaft denkt man logisch, in der Kunst denkt man analogisch.


Weder Wissenschaft noch Kunst sind ohne Gehirn möglich. Das Gehirn erschafft ein rationales und ein ästhetisches Verständnis der Welt. Verständnis ist aber kein biophysikalischer Mechanismus und für ein Überleben notwendig ist es auch nicht, wie sich anhand von Kakerlaken und Insekten er-kennen lässt. Auch Würmer und Maden leben ohne Wissenschaft und Kunst. Trotzdem gibt es Verständnis, das Ausdruck eines Verstehen-Wollens ist und deshalb eines Gehirns bedarf, das wollen kann. Wenn es also ein Wollen gibt, ist es das Gehirn, das wollen, will. Aber wie kommt das Gehirn, wenn man ihm - naturwissenschaftlich gedacht, eine ausschließlich physische Existenz unterstellt, zum Wollen? Welchen Nutzen sollte es davon haben? In den Naturwissenschaften lehnt man deshalb die Freiheit von Entscheidungen und ein damit verbundenes Wollen ab. An dessen Stelle treten Funktionen, die ein biologisches Leben und Überleben sichern. Jeder weiß es und kann es erfahren, dass zum Beispiel das autonome Nervensystem nicht unseres Wollens bedarf. Der Fehler ist die unbewusste Annahme, dass Entscheidungsfreiheit und Wollen Aspekte eines vom Gehirn unabhängigen Ich sein würden. Es ist jedoch anders. Ganz anders.

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